Seit einem halben Jahrtausend steht in einem Ostfriesischen Örtchen die Welt schief. Das Wahrzeichen von Suurhusen, der Kirchturm, gilt als der am stärksten geneigte Turm der Welt. Er gehört zur evangelisch-reformierten Kirchengemeinde und ist der ganze Stolz seiner 1100 Einwohner. Pisa war gestern. Suurhusen ist heute.

Erbaut wurde der Turm im Jahr 1450 und erweiterte die bereits bestehende Kirche. Sein Fundament aus Eichenstämmen errichteten die Suurhusener über Moorböden. Bis ins 19. Jahrhundert stand der Turm gerade. 1885 entdeckten die Einwohner erstmals, dass sich der Kirchturm zur Seite neigte. Schuld an der zunehmenden Schieflage hatte der sinkende Grundwasserspiegel, verursacht durch die Entwässerung der umliegenden Ländereien. Die bisher konservierten Eichenstämme begannen zu modern, konnten die Lasten nicht mehr tragen und brachten das Gotteshaus aus dem Gleichgewicht. Dramatisch verquer steht es um den Glockenturm, der aussieht, als wollte er sich jeden Augenblick vom Kirchenschiff losreißen und wegtorkeln.

1,13 Meter im Jahr 1925; 1,15 Meter vier Jahre später; 1,74 Meter 1939: Heute hat der schiefe Turm von Suurhusen einen Überhang von 2,47 Metern, bei einer Höhe von 27,37 Metern. Sein Neigungswinkel liegt bei 5,19 Grad – mehr als beim berühmten Vetter in Pisa, der gerade einmal vier Grad Schieflage misst.

Sein Neigungswinkel liegt bei 5,19 Grad – mehr als beim berühmten Vetter in Pisa, der gerade einmal vier Grad Schieflage misst.

Seit Mitte der 1990er Jahre gilt das Absinken des Ostfriesenturms als aufgehalten. Ein Stahlkorsett und spezielle Pfähle geben ihm den nötigen Halt. Pastor Frank Wessels schaut optimistisch in die Zukunft: „Ich habe großes Gottvertrauen und ein bisschen Vertrauen auf die Technik. Wenn man beides zusammenbringt, dann bin ich mir relativ sicher, dass der Turm nicht umfällt.“ Heute wird die Kirche noch an Festtagen zu Gottesdiensten genutzt. Pro Jahr pilgern rund 10 000 Besucher aus aller Welt in das kleine Dörfchen in Niedersachsen. Seit 2008 steht der schiefe Turm von Suurhusen im Guinness-Buch der Rekorde an der Spitze der schrägsten Bauwerke.

Doch ihm wird der Titel geneidet – in der Provinz ist ein Wettstreit um das schrägste Gemäuer entbrannt. Mehrere Bürgermeister sprechen dem Suurhusener Glockenturm sein Alleinstellungsmerkmal ab und behaupten, noch schrägere Gebäude in ihren Orten zu besitzen. Ein Beispiel ist Dausenau in Rheinland-Pfalz. Dort steht ein Wehrturm, der 5,24 Grad aus der Senkrechten driftet. Das Gemäuer wird allerdings nicht mehr genutzt. Nur zu gern würde Rathauschef Jürgen Linkenbach die Immobilie zur schrägsten des Erdenrunds küren lassen. Sein Antrag wurde von der Redaktion des Guinness-Buchs abgewiesen. Die Begründung: Der Bau in Dausenau sei nur eine „vergammelte Ruine“. Ostfriesland hat sehr nasse und torfige Böden, die zu Spannungsrissen und Setzungen in den Altbauten führen. Besonders trifft es die vielen kleinen mittelalterlichen Kirchen. Über 70 Prozent von ihnen sind aus dem Lot. Der Glockenturm im Friesendorf Barstede ist um 6,16 Grad abgeknickt. Der von Midlum weist sogar eine Kippstellung von 6,74 Grad auf. Und ein weiteres Gemäuer kann auftrumpfen: Der Turm im thüringischen Bad Frankenhausen mit 4,8 Grad Neigung.

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Ostfriesland ist nicht nur platt, sondern auch schief: Der Kirchturm von Suurhusen ist schiefer als die globale Konkurrenz.

Doch sie alle scheitern an den vorgegeben Kriterien für den Weltrekord. Denn nicht nur die Neigung spielt eine wichtige Rolle, auch die Höhe, die Breite und die Nutzung sind entscheidend.

 

 

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Wieso also sollten deutsche Touristen den langen Weg nach Pisa einschlagen, wenn das schrägste Bauwerk der Welt doch direkt vor der Haustür liegt. Selbstbewusst gehen die Ostfriesen mit dem Ruhm und dem Sieg über die Italiener um. „Freude darf sicher auch sein. Wir wollen es insgesamt nicht zu ernst nehmen. Es ist einfach ein bisschen kurios und so soll es auch bleiben“, sagt Pastor Frank Wessels über den Eintrag ins Guinness-Buch. Dennoch sei es letztendlich eine Kirche, in der Gottes Botschaft im Vordergrund stehe.

Trotzdem haben die Suurhusener ihr eigenes Geschäftsmodell mit der Berühmtheit ihres Kirchturms entwickelt. Münzprägungen, Tassen, 3D-Gebäude und Postkarten – das Dorf ist längst zum Magneten für Fans von kuriosen Bauwerken geworden.

Ehrenamtliche Führer nehmen die Besucher kostenlos auf eine kurze Reise ins Innere der Kirche mit. Einträge im Gästebuch zeigen die Vielfalt der Touristen auf, die sogar aus Kanada, Japan, Südkorea, Indien oder Spanien stammen. Unlängst ist klar geworden: Suurhusen ist das neue Pisa.

Von Jana Reimann-Grohs, Svenja Denter, Claudia Thaens und Christopher Braemer

 

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